Nachdem die Ortsgruppe Zürich des Schweizerischen Werkbundes bereits 2015 erfolgreich die SWB Gästewohnung in der «Werkbundsiedlung» Neubühl in Betrieb genommen hatte, folgte zwei Jahre später das Experimenthaus. Martin Goray bezog das sanft renovierte 3-Zimmer-Reihenhaus im September 2017 als erster Mieter für eine Dauer von fünf Monaten. Anlässlich eines Besuchs berichtet er, wie es ihm während der ersten Halbzeit seines Aufenthalts ergangen ist. Der nachfolgende Text erschien im Werkbrief 2018-1 (download pdf).
Es ist ruhig im Neubühl. Kein Passant, keine spielenden Kinder. Der erste Schnee hat den Zugangsweg zum Reihenhaus an der Westbühlstrasse 59 mit einer glatten Schicht überzogen. Martin Goray, «Neubühler» auf Zeit, bittet ins Haus.
Ein schmaler Korridor führt an der Küche vorbei in den Wohnraum. Heute ist Donnerstag. Der von Martin Goray konzipierte Salon mit dem Titel «gemeinschaftsgefühle!» hat am vorhergegangenen Samstag stattgefunden. Seither scheint Martin Goray den Tisch nicht angerührt zu haben. Die zwei sich darauf befindende leeren Weissweinflaschen, die zufällig abgestellten Weingläser und einige Stücke vertrockneten Brots lenken unweigerlich den Blick auf sich. Dieses am Salonabend entstandene Bild habe er noch nachwirken lassen wollen, erklärt Martin Goray halb entschuldigend. Er beginnt den Tisch abzuräumen. Der Besucherin bietet er einen Tee an.
Mittlerweile funktioniert der kürzlich montierte Therma-Herd aus den 1930er Jahren wieder. Während er den Teekessel aufsetzt, erzählt Martin Goray amüsiert, dass er anlässlich seines ersten Salons eine «Foodperformance» habe durchführen wollen. Nach einem Kurzschluss an einem der Herdschalter sei die Sicherung herausgefallen: «Ans Kochen war danach nicht mehr zu denken, ich musste improvisieren. Das kann passieren, wenn man in einem Museum wohnt».
Und in der Tat konnten die letzten 85 Jahre diesem Reihenhaus nicht viel anhaben. Grösstenteils dafür verantwortlich dürfte die Genossenschafterin gewesen sein, die hier fast ihr ganzes Leben verbracht hatte: «Im Grunde genommen wollte sie nicht, dass etwas verändert wird.» Sie habe weder das Bedürfnis nach einer Erneuerung geäussert noch habe sie sich Veränderungsvorschlägen gegenüber offen gezeigt. Und so sei hier im Experimenthaus auch nach den darauffolgenden kürzeren Aufenthalten einiger Interimsbewohner und nach der sanften Renovation noch fast alles wie ganz zu Beginn.
«Ich mag Schwellenzustände», verrät Martin Goray auf die Frage, weshalb er sich für den Aufenthalt im Experimenthaus beworben habe. Sowohl der zeitlich begrenzte Aufenthalt als auch die «Ambivalenz zwischen Privatraum und Museum» kämen ihm deshalb sehr entgegen.
Wer vorübergehend im Experimenthaus wohnt, setzt sich im Studium oder berufsmässig mit Fragen der Gestaltung und Wahrnehmung auseinander und hat sich gemäss den Ausschreibungsbedingungen bereit erklärt, während seiner Aufenthaltszeit drei öffentliche Salons zum Thema «Wohnen» durchzuführen.
In seinem, wie er es nennt, «zivilen» Leben arbeitet Martin Goray in einer Galerie für Designobjekte und Möbel des 20. Jahrhunderts sowie als Innenarchitekt. Seine Galeriearbeit beinhaltet neben der Akquise auch Restaurationsarbeiten und die Positionierung der Designobjekte für den Wiederverkauf an Private sowie Museen. Die Neubühl-Siedlung sei für ihn keine «terra incognita» gewesen, gäbe es doch mittlerweile schon einige Fachliteratur zu ihr. Zudem sei er schon öfters bei Freunden zu Besuch gewesen, die im östlichen Teil der Siedlung wohnten. Vor seinem Einzug sei er neugierig darauf gewesen, wie er sich sein temporäres Zuhause selber aneignen würde. «Ohne Raster oder Konzepte» wollte er an dieses Experiment herangehen: «Alle Möbel, die momentan hier drin sind, habe ich relativ zufällig hierhergebracht und zusammengestellt. Ich positionierte sie gleich am ersten Tag an die Stelle, wo sie heute noch stehen. Wichtig war mir, dass der Raum, nachdem ich ihn eingerichtet hatte, immer noch atmet.» Dass diese nonchalante Zufälligkeit einem professionellen Gestaltungsanspruch geschuldet ist, ist selbstredend.
Die von ihm ausgewählten Möbel und Designobjekte dienten ihm denn auch als Diskussionseinstieg für die öffentlichen Veranstaltungen. Die ersten zwei Salons waren den Themen «Befreites Wohnen» und «Gemeinschaft» gewidmet – gemäss Martin Goray beides Themen, die «sowohl individuelle als auch kollektive Utopien und Phantasmen» anregten. Sein Vorgehen an den Salons bestand nun darin, zu Beginn kleine Schlaglichter auf Beispiele aus der Designgeschichte oder der Geschichte des Wohnens zu werfen. Diese Beispiele versuchte er, mit der Alltagsrealität des Neubühls zu kontrastieren oder in Gesprächen zu erweitern.
An den Salons waren vorwiegend Bewohnerinnen und Bewohner der Neubühlsiedlung anwesend. In den Gesprächen seien deshalb auch gruppendynamische Prozesse zum Tragen gekommen, die von einem Aussenstehenden, wie er einer sei, auf Anhieb nur schwierig zu durchbrechen seien. Andererseits habe er in den ersten beiden Salongesprächen auch berührende Momente erlebt. Durch das aktive Teilen von Geschichten, durch diese «höhere Form der Kommunikation», sei die gelebte Gemeinschaftskultur spürbar geworden.
Nach den ersten drei Monaten sind bereits weitere bereichernde Kontakte entstanden. Martin Goray schätzt es sehr, dass sich ihm mit jedem Besuch bei einer neuen Nachbarin, einem neuen Nachbarn ein «Geschichtenraum» und somit eine neue Welt eröffnet. Diese Geschichten rund um die Gemeinschaft sind es denn auch, die ihn interessieren und die seiner Meinung nach eine «poetische» Auseinandersetzung mit der Siedlung ermöglichen.
Seine vorübergehende Situation im Neubühl empfindet Martin Goray, der sonst in einer kleinen Altstadtwohnung auf der 4. Etage lebt, als luxuriös. Den Ausblick in den Garten wird er sicherlich vermissen: «Ich habe es in einer Wohnung noch nie erlebt, dass ich nach draussen schauen und beobachten kann, wie die Zeit vergeht – einerseits die Tageszeit, andererseits die Jahreszeit. Diese Kontemplation hat für mich etwas Verbindendes.»
Nach seinem Aufenthalt im Neubühl hat er vor, nach Indien zu reisen. Südlich von Chennai möchte er sich Auroville, «eine utpoische Stadt, in der das Gemeinschaftsleben eine grosse Rolle spielt», zum zweiten Mal ansehen. Danach führt ihn seine Reise weiter nach Chandigarh, wo er als Sachverständiger die Produktion einer limitierten Sitzmöbel-Reedition von Pierre Jeanneret überwachen und weitere Recherchen für eine Ausstellung tätigen wird.
Für weitere Wohnexperimente ist Martin Goray offen, hat er doch bereits in einer Clusterwohnung in Rio de Janeiro oder in einer buddhistischen Klostergemeinschaft in Thailand gelebt. Doch im Moment haben seine beruflichen Projekte Vorrang.